Herz, Hirn und Hände

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Ja, ich lebe in einer Blase. Eine Blase die geprägt ist von Menschen, die Textil so lieben wie ich. Von Menschen, die die Schönheit in den Fasern sehen, den Fäden, den Geweben, der Arbeit so vieler Hände. Beim letzten Flachsbrecheltag haben 13 Menschen von 3 Monaten bis Anfang 60 gemeinsam gearbeitet. Wir haben Fasern entdeckt, gesponnen, geredet, gelacht aber auch geschwitzt und waren von bis in die Unterwäsche eingestaubt. Schön wars!

Geht man einen Schritt zurück, raus aus der Blase,  mögen die Arbeiten bedeutungslos erscheinen, die die Menschen noch vor gar nicht so langer Zeit jeden Tag verrichtet haben, um sich zu nähren, zu kleiden und  zu wärmen. Niemand muss mehr spinnen und weben und Kleidung zu haben, ein voller Magen hängt nicht mehr davon ab, ob die kleine Gemüse- oder Weizenernte gut ausfällt, Häuser sind auch warm, wenn keine Axt das eigene Holz zuvor zerkleinert hat. Alles vorbei. Alles besser jetzt - moderner, angenehmer, einfacher. Man entwickelt sich schließlich weiter, tauscht körperliche harte Arbeit gegen einen weniger hart erkämpften Wohlstand. Wir jagen ja auch keine Mammuts mehr. Geht ja auch gar nicht , die gibt’s nicht mehr.  Aber auch den Besenmacher gibt’s nicht mehr und den Zwirnler. Kein Wagner macht mehr Räder und Fässer, kein Seiler bedient mehr seinen Seilbock, kein Bauer muss im Winter mehr Körbe flechten oder Holzschuhe schnitzen. Gut so, hört man da viele sagen, es muss ja nicht alles weitergetragen werden, wenns obsolet geworden ist.

Aber ist es das tatsächlich?  

„obsolētus“ (lat) heißt „alt“, „abgenutzt“ und auch  „alltäglich“ es heißt nicht sinnlos. Wieviel Schönheit liegt in diesen alten, abgenutzen, alltäglichen Dingen. Sie erinnern uns an  Menschen, ein Leben das gelebt wurde, an die Vergangenheit und hier beginnt es sich zu spießen, denn nicht jede Vergangenheit war immer schön. Wer einmal selbst den ganzen Weg vom Leinsamen zum Textil gegangen ist, bekommt eine Ahnung davon wie hart dieses Leben gewesen sein muss. Altes, Abgenutztes erinnert auch an Armut. An Zeiten, in denen man nichts einfach so ersetzen konnte bevor es nicht wirklich kaputt war und wer will schon arm sein. Vor allem wenn rundherum alle langsam Richtung Wohlstand wandern. Wir wurden zu einer Gesellschaft, die sich  gar nicht schnell genug von der Vergangenheit verabschieden konnte – Blick nach vorne in die Zukunft, die Gegenwart fast schon ein lästiges Ärgernis, weil ja nur der Fortschritt Glück und Zufriedenheit versprach.

Klar, niemand will sich an schwere Zeiten erinnern, nur schütten wir da nicht gleich das Kind mit dem Bad aus? Was ist mit den vielen schönen, kleinen Momenten die der harte Arbeitsalltag auch zu bieten hatte? „Schee woars, wenn die Mutta im Winter gspunna hot, in der warmen Stubn“ – Auch daran erinnern sich Rosa, Maria oder Anna. Die Frauen sind heute 80 oder älter. Sie haben geschuftet als junge Frauen, wünschen sich die Vergangenheit sicher nicht in ihrer Gesamtheit zurück, aber werden gerne daran erinnert was gemeinsames arbeiten auch war – nämlich befriedigend, erfüllend, stolz machend.

Es tut also etwas mit unserer Gesellschaft, wenn wir altes Wissen und altes Handwerk bereitwilligst auf dem Altar des Fortschritts opfern. Wir verlieren ein Stück Geschichte, das man fühlen kann, nicht nur lesen. Ein Stück Identität, ein Stück Zugehörigkeit. Erst mit der industriellen Revolution vor knapp 300 Jahren haben wir im globalen Norden langsam angefangen uns von dem Leben unserer bronzezeitlichen Vorfahren zu entfernen. 7.300 Jahre lang haben wir mehr oder weniger unmittelbar von den Früchten unserer Arbeit gelebt. Wenn Anna von ihrer Kindheit im Mühlviertel der 1930er Jahre erzählt ist sie der Geschichte eines Mädchens aus dem bronzezeitlichen Hallstatt viel näher als dem Alltag eines modernen Kinds. In nicht einmal 100 Jahren haben wir alles entsorgt, was viele Generationen vor uns definiert hat.

Natürlich will auch ich, mich nicht unbedingt bei Minusgraden am Brunnen waschen müssen und im Winter nur von Rüben, Kraut und Kartoffeln leben aber ich will all das Gute der Vergangenheit nicht verlieren. Sollten wir es uns als Gesellschaft nicht leisten können (und wollen) sowohl online, remote und flexibel zu arbeiten als auch zu wissen wie man Flachs brechelt, einen Besen bindet oder einen Drahtkorb macht.

Altes Handwerk ist sicher obsolet, sinnlos ist es nicht und gut tut es auch. Warum sonst würden sich Jahr für Jahr mehr Menschen zusammenfinden, die mit mir eintauchen in die Welt des Leinenmachens. Wenn Herz, Hirn und Hände zusammenarbeiten, um nach einem Jahr mit leuchtenden Augen ein kleines Stück Leinen in Händen zu halten, dass im eigenen Garten gewachsen ist, dann wird klar, was wir verlieren, wenn wir Handwerk einfach so ziehen lassen.


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